Tierliebe falsch verstanden
Eichelhäher mit Pflegeschäden nun in Expertenobhut
Am Boden sitzend wurde er auf dem Campus des Leibnitz-Instituts vor rund einem Jahr von einer aufmerksamen Bürgerin gefunden: ein Eichelhäher-Nestling – scheinbar aus dem Nest gefallen. Für die Finderin war schnell klar, dass sie sich um den zerzausten kleinen Kerl kümmern würde. Sie hatte schließlich Ziervögel zuhause und verstand sich als Vogelkennerin. Zu denen setzte sie den Eichelhäher dann auch in die Voliere, als er groß genug war. Da Eichelhäher Nesträuber sind, bediente er sich beharrlich am Nachwuchs seiner exotischen Käfiggenossen. Schnell machten sich die einseitige Ernährung und die mangelhafter Unterbringung bemerkbar. Deutliche Gefiederschäden wurden sichtbar.
Mit den Tierpflegern der Wildvogelstation nahm die Finderin erst Kontakt auf, um sich Informationen über Behandlungsmöglichkeiten von Ektoparasiten einzuholen. Auch die massiven Federdeformationen seien ihr aufgefallen, berichtete sie. Die Stationsmitarbeiter konnten sie schließlich davon überzeugen, dass eine Übergabe des Eichelhähers für das Tier das Beste sei. Schließlich waren auch weitere Folgeschäden, beispielsweise an den inneren Organen auch nicht auszuschließen.
„Die Aufzucht eines Wildvogels erfordert ein großes Herz, doch neben der Liebe zum Tier sind auch umfangreiche Fachkenntnisse erforderlich. Nur wer die Biologie von Wildvögeln kennt, ihr Sozialverhalten berücksichtigt und ein artgerechtes und vielfältiges Futterangebot bietet, hat die Möglichkeit, die Tiere optimal zu versorgen und auf ihr anschließendes Leben in Freiheit vorzubereiten“, erklärt Rebekka Sens, Tierpflegerin der NABU Wildvogelstation. „Die Gefahr ist groß, aus Unwissenheit grobe Fehler in der Aufzucht zu begehen. Selbst wenn das Tier vermeintlich ‚groß geworden‘ ist, bleiben meist verheerende Schäden zurück, die die Tiere nicht selten mit dem Tod bezahlen“, so Sens.
Schäden vermeiden
Deformationen oder Missbildungen treten aufgrund diverser Ursachen in Erscheinung, beispielsweise ständiges Reiben des Gefieders an Gitterstäben, Proteinmangel im Zuge der Wachstumsphase oder ein Befall mit speziellen Gefiederparasiten. Eine falsche Fütterung kann zu Anomalien in der Federbildung führen. Eine optimale Nähr- und Wirkstoffzusammensetzung in der Ernährung ist vor allem in der Entwicklungsphase lebensnotwendig. Die natürliche Nahrungsgrundlage ist für einen Pfleger nur sehr schwer nachzustellen. Nahrungsergänzungsmittel sind unter Umständen notwendig.
Der Eichelhäher hatte abgebrochene und ausgefranste Federn. Sogenannte Hungerstreifen sind bei Vögeln zunächst das erste sichtbare Symptom einer Mangelernährung. Sie sind Fehlbildungen der Federn, die zur Einschränkung der Flugfähigkeit führen. Sie sind Symptome einer Störung der Keratin-Einlagerung während der Wachstumsphase. Es entstehen „Sollbruchstellen“, an denen die Federn brechen. In diesem Zustand muss der Vogel so lange stationär betreut werden, bis sich das Federkleid durch eine Mauser erneuert hat. Mineralstoffmangel oder falsches „Handling“ des Vogels bei der Fütterung können zusätzlich zu irreparablen Deformationen oder Funktionsstörungen im Schnabel-, Knochen- oder Organbereich führen. Eine anschließende Auswilderung ist häufig unmöglich, da die Überlebenschancen dieser Tiere in der Regel sehr schlecht sind. In einigen Fällen können sie nur noch von ihren Schmerzen erlöst werden.
Die Gefahr der Fehlprägung
Ein weiterer doch sehr häufig begangener Fehler ist die unmittelbare Gewöhnung an das unnatürliche Aufzuchtsumfeld, beispielsweise Familienmitglieder, Haustiere und für den Wildvogel unnatürliche Strukturen. Diese Form der Habituation und Sozialisation kann dazu führen, dass die arttypische Fluchtdistanz zu potentiellen Beutegreifern verloren geht, wenn ein Vogel zum Beispiel an den Familienhund oder die entspannte Hauskatze gewöhnt wurde.
Vorbereitung auf das Leben in Freiheit
Das Anbieten von artgerechtem und möglichst naturnahem Futter erfüllt neben der Versorgung mit allen überlebenswichtigen Nähr- und Wirkstoffen noch einen weiteren Zweck. Viele Verhaltensweisen sind bei Vögeln zwar angeboren, doch ist z.B. die frühe Gewöhnung an das natürliche Futterangebot essentiell. Die Jagd nach dem Futter oder das Körnerknacken müssen die Tiere in ihrer frühen Lebensphase zunächst trainieren. Eine zu schnelle Auswilderung ist daher nicht empfehlenswert.
Und der Eichelhäher?
Da der Häher keinerlei Erfahrungen mit Wetterumschwüngen machen konnte, ist er momentan in einem sogenannten Vogelraum untergebracht. Da er bisher nur in einer gut beheizten Zimmervoliere gelebt hat, werden ihn die Tierpfleger*innen erst bei milderen Temperaturen in die Außenvoliere setzen.
„Er ist zwar sehr nervös, was das Handling schwierig gestaltet, aber er ist definitiv nicht auf den Menschen geprägt, was eine Auswilderung möglich macht“, erklärt Rebekka Sens.
Alles hängt jetzt davon ab, ob Folgeschäden an den Organen auftreten, ob die nächste Mauser zu viel Energie kostet oder es zu Entwicklungsstörungen der nachkommenden Federn kommt. „Wir müssen ihn gut im Auge behalten, um rechtzeitig eingreifen zu können, wenn sich sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert. Sollte er aber, wie geplant, nur mausern müssen, kann er problemlos im nächsten Spätherbst raus“, so Tierpflegerin Sens.
Haben Sie einen scheinbar verletzten oder hilflosen Wildvogel gefunden, setzen Sie sich bitte zuerst mit erfahrenen Pflegeeinrichtungen in Verbindung! Melden Sie sich gern telefonisch oder per Mail in der Wildvogelstation des NABU Berlin. Die Mitarbeiter beraten Sie gern.