Keine Hoffnung für verletzte Ringeltaube
Falsch verstandene Tierliebe wurde ihr zum Verhängnis
Wildtiere können Verletzungen gut verbergen. Da die Taube jedoch nach dem Fund keiner wildvogelkundigen Tierarztpraxis vorgestellt wurde, konnte keine Diagnose gestellt, und eine entsprechende Therapie veranlasst werden.
Als sich der Finder an unsere Wildvogelstation wandte und das Verhalten seines Pfleglings beschrieb, wurde schnell klar, dass umgehend eine medizinische Beurteilung erfolgen musste, um den Vogel vor weiterem Schmerz und Leid zu bewahren, und noch Hoffnung für eine Wiederauswilderung bestand.
Diagnose Fraktur im Bereich des Schultergürtels
Der Finder brachte daraufhin seinen Pflegling zur Untersuchung in die Kleintierklinik der FU Berlin. Die auf Wildtiere spezialisierten Ärzt*innen der Klinik diagnostizierten eine alte, unbehandelte und mittlerweile verwachsene Schultergürtelfraktur und entschieden, den Jungvogel stationär aufzunehmen und nach medizinischer Betreuung an die Wildvogelstation zu übergeben. Der Schultergürtel ist ein essenzieller Teil des Flugapparates, der schmerzfrei und uneingeschränkt funktionieren muss, um ein Fluchttier wie eine Ringeltaube irgendwann guten Gewissens in die Freiheit entlassen zu können.
In der Freiflugvoliere wollten sich die Mitarbeiter*innen der Wildvogelstation einen Überblick und somit eine objektive Einschätzung über die Flugfähigkeit der Ringeltaube verschaffen. Sind die Schäden irreversibel? Hat die Taube damit verbundene Einschränkungen? Auch verheilte Frakturen können Einschränkungen, wie Steifheit o.ä. mit sich bringen. All diese Punkte sind für die sogenannte Wildbahntauglichkeit von großer Bedeutung.
Wildvogelstation kein dauerhaftes Wildvogelasyl
Wildvögel werden grundsätzlich nur aufgenommen, wenn eine Wiederauswilderung perspektivisch möglich erscheint. Bei dauerhaften Schäden, Schmerzen und damit verbundenem Leid muss in Einzelfällen eben auch die schwere Entscheidung getroffen werden, dieses Leid zu beenden. Die Folgen einer Dauerhaltung eines Wildvogels können schwerwiegend sein für das Wohlbefinden und die Gesundheit des Tieres.
Aus Artenschutzrechtlicher Sicht ist es nach §44 Bundesnaturschutzgesetzes sogar verboten, ein Tier aus der Natur zu entnehmen und zu besitzen. Als Ausnahme gelten nur zur Pflege aufgenommener Wildtiere, wenn sie verletzt, hilflos oder krank sind und immer mit dem Ziel, das Tier unverzüglich wieder in die Freiheit zu entlassen, sobald ein Selbsterhalt realistisch ist. (§45 BNatSchG)
Und die Taube?
Leider war die Taube auch Wochen nach Aufnahme in der Station nicht in der Lage ein schmerzfreies, uneingeschränktes Flugbild zu zeigen. Nach kurzer Anstrengung nahm sie sofort wieder eine massive Schon- und Stützhaltung ein. Ein Auftrieb war absolut nicht möglich, der Schultergürtel als Stützapparat bereitete dem Vogel offenbar große Schmerzen.
Nach zeitweiligem Aufenthalt und Flugtraining musste die folgenschwere Entscheidung getroffen werden. Das Tier wurde nach nochmaliger Rücksprache vom Veterinär in der Kleintierklinik eingeschläfert.
Möglicherweise hätte man bei rechtzeitiger Behandlung kurz nach Fund medizinisch eingreifen oder wenigstens das Leid der Jungtaube verkürzen können.
Jeder Fall ist anders
Jeder Fall ist individuell. Nicht alle Verletzungen stellen eine dauerhafte Gefahr für eine Wiederauswilderung dar. Deshalb ist es so wichtig, Menschen mit Fachverstand zu Rate zu ziehen!
Die Expert*innen der Wildvogelstation beleuchten zusammen mit vogelkundigen Mediziner*innen jede Situation entsprechend und beziehen alle Faktoren mit ein, um eine Entscheidung im Sinne des Tieres zu treffen – eben auch das ist Tierschutz!
Stellen sich Verletzungen oder Defizite als so gravierend dar, dass es sich bei der Unterbringung und Betreuung der Findlinge nur noch um „lebenserhaltene Maßnahmen“ handeln würde, müssen Entscheidungen getroffen werden, zu denen manch ein*e Finder*in aus emotionaler Befangenheit oder eben falsch verstandener Tierliebe nicht in der Lage ist: das Erlösen eines Wildtieres von seinem Leid.
Wildvogelhaltung will gelernt sein
Mangelerscheinungen wegen falscher Fütterung, Unterbringung oder Fehlprägung – wenn ein Fundtier, egal ob Vogel oder Säugetier, nicht artgerecht versorgt wird, hat dies oft schwerwiegende Folgen. Entwicklungsstörungen im Federkleid oder Skelettapparat sowie Organschäden sind leider keine Seltenheit während der Betreuung von Jungvögeln in Laienhand.
Eine mögliche Prägung auf den Menschen oder dessen tierische Mitbewohner wie Hund oder Katze werden den Jungvögeln nach zu enger menschlicher Betreuung häufig zum Verhängnis. Kommt es während der Sozialisierungsphase der Jungvögel zu solchen Fehlprägungen, ist ein langes Leben in freier Wildbahn für sie oft nicht möglich. Diese möglichen Gefahrenquellen werden somit nicht mehr als natürliche Feinde wahrgenommen und es folgt das Fehlen der arttypische Fluchtdistanz. Die einst sorgsam aufgezogenen Jungvögel enden somit frühzeitig in freier Wildbahn als leichte Beute.
Außerdem können die Vögel essenzielle Verhaltensweisen, die sie sonst von ihren Artgenossen lernen, in Menschenhand meist nicht erwerben.
Hinzu kommen nicht diagnostizierte Verletzungen, die zwar in der Regel überhaupt erst zum Fund des Vogels geführt haben, aber dennoch nicht erkannt werden. Während der Betreuung eines Findlings müssen demnach Verhaltensweisen, die auf eine Verletzung hindeuten, wie mögliches Entlasten der Gliedmaßen, gut analysiert und nötige Schritte, wie der Gang zur vogelkundigen Arztpraxis in die Wege geleitet werden. Versäumt man den richtigen Moment, kann dies fatale Folgen für das weitere Vogelleben haben.
Der Kreislauf des Lebens
Finder*innen sollten sich dessen bewusst sein, dass schwache oder kränkelnde Vögel auch bisweilen zugunsten ihrer Geschwister von den eigenen Eltern selektiert und gezielt aus dem Nest geworfen werden. Ist durch Wetterkapriolen oder Hitzewellen das Nahrungsangebot knapp oder das Küken krank oder zu schwach, entscheiden sich die Vogeleltern meist für die Auslese.
Das mag für uns Menschen brutal und grauenhaft anmuten, ist für die natürlichen Prozesse in unserer Stadtnatur jedoch wichtig und ganz normaler Alltag. Für Tiere, die sich unter anderem von Jungvögeln ernähren, ist dies dann willkommene Beute und absolut essenziell. Auch Krähen, Habichte und Füchse möchten ihren Nachwuchs groß bekommen. In der Stadt greifen diese Kreisläufe genauso wie auf dem Land, nur dass wir es dort viel seltener mitbekommen.
Wir möchten Sie nicht ermutigen wegzuschauen – ganz im Gegenteil. Empathie und Eigenbeteiligung ist heute wichtiger denn je und hilft uns dabei gemeinsam beim Natur- und Artenschutz. Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen Denn raten allen Tierfreund*innen dringend, beim Fund eines Wildvogels direkt entsprechende Einrichtungen zu konsultieren.