Ungeliebte Krähenvögel
... doch aus dem Ökosystem nicht wegzudenkende Regulatoren!
Elstern werden immer wieder als Plage bezeichnet und die Beseitigung ihrer Nester zum Schutz der Singvögel gefordert. Wer glaubt, dass in unserer heutigen Zeit Fachwissen und wissenschaftlichen Erkenntnis Vorurteile abgebaut haben, der irrt. In der Brutsaison rufen nahezu täglich ratsuchende Bürger*innen bei uns an und wollen von uns Tipps, wie sie Elstern und Nebelkrähen von ihrem Hof vertreiben können.
Allen Anrufer*innen ist eines gemeinsam: Seit dem Erscheinen der Krähenvögel haben sie in ihrem Wohnumfeld einen Rückgang der Singvögel festgestellt. Und sie haben beobachtet, wie Elstern oder Nebelkrähen Jungvögel aus den Nestern getragen haben.
Von Rabenmüttern und diebischen Elstern
Von alters her haben wir Menschen ein besonderes Verhältnis zu den Krähenvögeln. Begriffe wie "diebische Elster" oder "Rabenmutter" sowie unzählige Mythen und Legenden zeugen davon. Der Bogen reicht von großem Respekt, weil sie angeblich Unheil voraussehen und Glück bringen (so sahen es die Griechen) bis hin zu Angst, weil sie Unglück und Tod bringen (so die mitteleuropäischen Völker). Dass gleiche Verhaltensweisen völlig unterschiedlich bewertet wurden, zeigt folgendes Beispiel: Erschien eine Krähe von links, so bedeutete es bei den Römern etwas Schlimmes, die Franken hingegen interpretierten es als Omen für den glücklichen Ausgang einer Reise. Sollte sich unsere Einstellung nach Hunderten von Jahren nicht verändert haben?
Krähenheimat Berlin
Richtig ist, dass die Brutbestände von Elster und Nebelkrähe in den vergangenen Jahren in Berlin deutlich zugenommen haben. Ein Prozess, der sich in der Innenstadt noch fortsetzt, in den Randbereichen jedoch kaum mehr zu beobachten ist. Gleichzeitig erfolgte aber ein deutlicher Rückgang in weiten Teilen der Feldfluren. Ursache dafür waren die zunehmende Intensivierung der Landnutzung und eine damit einhergehende Beseitigung der für die Nestanlage geeigneten Strukturen. Somit rückten die Tiere näher in unser alltägliches Blickfeld; an ihren Ernährungsgewohnheiten hat sich hingegen wenig geändert.
Gerade die Berlin großflächig umgebenden Rieselfelder mit ihren Wällen und Hecken boten der Elster ideale Niststandorte und Nahrung. Nach ihrer Beseitigung verlagerten sich die Elstervorkommen in Richtung Stadt. Der aktuelle Brutbestand der Elster wird für das gesamte Stadtgebiet mit 4.300 angegeben, die Nebelkrähe bringt es auf 4.500 Reviere.
Auch Krähenvögel sind Singvögel
Häufig ist nicht bekannt, dass auch Krähenvögel zu den Singvögeln gehören. Wer einmal eine zwitschernde Elster mit ihrem glänzenden Gefieder in der Frühlingssonne oder die Gruppenbalz des Eichelhähers beobachtet hat, kann dieses jedoch leicht nachvollziehen.
Richtig ist auch, dass zum Speisezettel der Krähenvögel Eier und Junge anderer Freibrüter zählen. Aber bei weitem sind es nicht so viele, wie manch einer glauben mag. Untersuchungen an elf Nestern ergaben, dass Vögel unter sämtlichen Beutetieren einen Anteil von 0,4 Prozent ausmachen. Ihr Volumenanteil betrug allerdings 16,8 Prozent. Nur in jedem vierten Nest wurden Vogelbestandteile nachgewiesen. So kommt auch eine in Ulm durchgeführte Untersuchung zu dem Ergebnis, dass von Krähenvögeln kein erhöhter Prädationsdruck ausgeht. Der Bruterfolg der Kleinvögeln war in den untersuchten Gebieten mit hoher Krähenvogeldichte nicht schlechter als in Gebieten geringer Dichte. Diese Aussagen werden auch von Berliner und Osnabrücker Ornitholog*innen bestätigt.
In verschiedenen Untersuchungen wurde festgestellt, dass menschliche Störungen eine entscheidende Rolle beim Auftreten von Krähenvögeln als Nesträuber spielen. Elster und Nebelkrähe werden oft erst in Kombination mit Störungen, etwa durch Menschen, Hunde oder Katzen, zu Nesträubern: Wenn sie die Abwesenheit der Altvögel vom Nest zum Beutefang nutzen können. Für den Bruterfolg einer in der Stadt lebenden Art ist entscheidend, wie sie mit ihrem Ersatzlebensraum zurechtkommt. Beim "Waldvogel" Amsel fliegen zum Beispiel in Stadtgebieten im Vergleich zu Grasmücken deutlich weniger Junge aus. Das wird mit dem unterschiedlichen Feindvermeidungsverhalten und der Anpassung an den neuen Lebensraum erklärt. Während die Klappergrasmücke als typischer Heckenbewohner ihren Nistplatz bei Störungen "heimlich" verlässt und anfliegt, verlässt die Amsel ihr Nest bei Störungen mit lauten Warnrufen oder wartet ruhig in der Deckung. Angriffe, wie sie beispielsweise Wacholderdrosseln erfolgreich gegen Krähenvögel führen, sind von Amseln nicht bekannt.
Da viele Gehölze zur ersten Brut noch nicht belaubt sind, wird diese, ebenso wie Balkonbruten, nicht nur von Beobachter*innen, sondern auch von Krähenvögeln leicht entdeckt. Abhilfe im Sinne der Elstern- und Krähengegner*innen könnte eine deckungsreichere Wildnis in der Stadt leisten. Die Verbreitung der Singvögel würde dadurch gefördert. Doch die Natur ist kein statisches System. Mit der Elster hat auch der Habicht, ihr natürlicher Gegenspieler, in Berlin zugenommen. Und auch Elster und Nebelkrähe leben nicht verträglich im selben Revier: Es kommt zu Rivalitäten, die das Abwandern einer Art, meist der unterlegenen Elster, zur Folge hat.
Gesundheitspolizei und Nest-Architekt
Da Krähenvögel Allesfresser sind, kommt ihnen in unserer Natur eine wichtige Rolle als Gesundheitspolizei zu, vergleichbar mit der von Geiern in anderen Gefilden. Um die Entsorgung manches Kadavers oder biologischen Mülls müssten wir uns selber kümmern, kämen uns nicht die Krähen zu Hilfe.
Die Nester der Nebelkrähe dienen nach dem Ausfliegen der Jungvögel als Nistplatz für andere Arten, die selbst keine Nester bauen. Sie haben somit eine wichtige Schlüsselfunktion in unserer Kulturlandschaft. Sie sind So nutzen zum Beispiel Waldohreule und Turmfalke diese Nester zur Brut und auch der in Berlin und Brandenburg vom Aussterben bedrohte Baumfalke legt seine Eier in Krähennester. Auch das ist ein praktischer Grund, der gegen das Entfernen von Nestern spricht, abgesehen vom Naturschutzgesetz. Denn gemäß des Naturschutzgesetzes gehören Krähenvögel, wie alle europäischen Vogelarten, zu den besonders geschützten Vogelarten. Daraus ergibt sich das Verbot, den wild lebenden Tieren und besonders geschützten Arten "nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen, zu töten oder ihre Entwicklungsformen, Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtsstätten der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören".
Neben Elster und Nebelkrähe gibt es in Berlin aber noch vier weitere Arten, die zu den Krähenvögeln gehören:
Auch der Kolkrabe konnte in den vergangenen Jahren seinen Brutbestand auf derzeit 20 bis 25 Brutpaare in Berlin erhöhen. Noch fordert hier niemand seine Reduzierung, aber eine sachliche Aufklärung erscheint auch hier angeraten, wie Beispiele aus anderen Bundesländern zeigen: Dort wurde der Kolkrabe schon für den Tod von Kälbern und Schafen auf der Weide verantwortlich gemacht. Behauptungen, die bei genauerer Untersuchung nicht aufrecht zu halten waren.
Der vorwiegend Wälder und größere von Bäumen geprägte Siedlungsgebiete besiedelnde Eichelhäher hat gegenwärtig mit 1.200 Paaren einen leicht zunehmenden Brutbestand. Anders sieht es bei Dohle und Saatkrähe aus. Wenn sich deren Bestände weiterhin so negativ wie in den vergangenen zehn Jahren entwickeln, könnten sie bald nicht mehr zu den Berliner Brutvögeln gehören. In ganz Berlin nisten nur noch etwa 40 Dohlen- und 110 Saatkrähen-Paare, und die Nachwuchsrate ist meist sehr niedrig.
Bei den im Winterhalbjahr zu beobachtenden großen Krähen-Schwärmen handelt es sich um Saatkrähen und Dohlen aus Ost- und Nordeuropa. Deren Anwesenheit hat keinen Einfluss auf unsere Singvogelbestände, da sich diese Schwärme zur Brutzeit bereits wieder in ihren heimatlichen Gefilden befinden. Eine Forderung nach Bestandsreduzierung ist daher auch hier nicht gerechtfertigt.
Untersuchungen der Berliner Brutvogelwelt durch die Berliner Ornithologische Arbeitsgemeinschaft (BOA) zeigen, dass die Brutbestände der als Nahrung in Frage kommenden Freibrüter, wie Amsel und Grünfink, gleich bleiben oder sogar zunehmen. Bisher gibt es keinen fachlich begründbaren Hinweis, dass der Bestand anderer Vogelarten durch die Anwesenheit der Krähenvögel in Berlin reduziert oder gar gefährdet wird. Die Abneigung mancher Menschen gegenüber Krähenvögeln ist eher das Ergebnis, wenn Emotionen unser naturkundliches Wissen überragen.
Verluste sind im Tierreich eingeplant, sei es durch Witterungsereignisse oder Fressfeinde. Um Verluste auszugleichen, haben die meisten Freibrüter eine höhere Nachwuchsrate als für den Bestandserhalt nötig. Geht eine Brut verloren, etwa durch Krähenvögel, sind Freibrüter in der Lage, Ersatz- oder Nachgelege zu produzieren. Viele Arten zeitigen ohnehin zwei bis drei Jahresbruten - ein Überschuss, der in der Nahrungskette Natur gebraucht wird. Jedem ist bekannt, dass ein Vogeljunges zum Heranwachsen auf Nahrung angewiesen ist. Es ist verständlich, dass es manch einen stärker berührt, wenn eine Elster mit einem Jungvogel im Schnabel davon fliegt. Anders erscheint es, wenn eine Amsel einen Regenwurm aus dem Rasen zieht. Wer würde wohl auf die Idee kommen, die Reduzierung der Amseln zu fordern, nur weil sie und ihre Jungen Regenwürmer fressen?
Jens Scharon