Akte Tempelhof
Einmal Freiheit und zurück
Fast sechs Jahre ist es nun her, seitdem das Flughafengelände Tempelhof stillgelegt und der Natur überlassen wurde. Vor vier Jahren dann, am 8. Mai 2010, wurde das Tempelhofer Feld für die Bevölkerung geöffnet. So stand der Naturschutz vor einem interessanten Experiment. Würde es gelingen, trotz der vielfältigen Nutzungen den einzigartigen Lebensraum in der Innenstadt zu verteidigen?
Einvernehmliches Miteinander von Mensch und Natur
Nach der Öffnung des ehemaligen Flughafengeländes für die Berliner waren die Prognosen unter den Naturschützern sehr gemischt. Eigentlich konnte man sich nicht vorstellen, dass auf den offenen, trockenwarmen Lebensräumen weiterhin seltene Pflanzen- und Tierarten koexistieren würden. Denn schnell wurde das Tempelhofer Feld zu der Attraktion in Berlin – rund zwei Millionen Besucher im Jahr sprechen für sich. Vor allem junge Leute, darunter viele Berlin-Besucher, zog es auf die Freifläche. Fahrradfahrer, Skater, Kitesurfer, Jogger und Drachenlenker waren die Nutzer der ersten Stunde.
Später kamen dann die Allmende-Gärtner, die Hüttenstadtbauer, die Shaolin-Kampfsportler oder die Arche Metropolis hinzu. Nur wenige Orte in Berlin beflügeln die Fantasie so stark wie diese einzigartige nicht definierte Weite des Tempelhofer Feldes.
Die letzten vier Jahre auf dem Tempelhofer Feld haben jedoch entgegen den Befürchtungen gezeigt, dass Naturschutz und Erholung auf einer innerstädtischen Brachfläche – mit einigen Abstrichen – sehr wohl vereinbar sind. Voraussetzung ist, dass die Fläche groß genug ist, sensible Teilbereiche für Flora und Fauna zu bestimmten Zeiten im Jahr entweder eingezäunt oder mit Hinweisschildern gekennzeichnet werden, Hunde angeleint sind, eine Kontrolle durch Parklotsen stattfindet und eine von einem Monitoring begleitete naturschutzgerechte Pflege erfolgt. Für diese positiven Randbedingungen hat die GrünBerlin GmbH in den letzten Jahren gesorgt. Erfreulicherweise gab es auch eine große Akzeptanz und Rücksichtnahme durch die Nutzer. Der NABU Berlin begrüßt diese positive Entwicklung, zeigen Untersuchungen doch eine bemerkenswerte Artengemeinschaft auf dem ehemaligen Tempelhofer Flughafengelände.
Bemerkenswerte Artenvielfalt
Mittels eines Monitorings im Jahr 2005 konnten 20 Hektar gefährdeter und geschützter Sandtrockenrasen sowie 27 Hektar Glatthaferwiese festgestellt werden – ökologische Kostbarkeiten, die nach Ansicht des NABU Berlin auch zukünftig unbedingt erhalten werden sollten.
Bei einem weiteren Kontroll-Monitoring 2010 konnten auf dem Gebiet zudem insgesamt 329 wildwachsende Gefäßpflanzenarten nachgewiesen werden, wobei 13 auf der Roten Liste gefährdeter Arten Berlins bzw. auf der Vorwarnliste stehen.
Das vom Aussterben bedrohte Ungarische Habichtskraut, welches sich dort seit 2005 neu etabliert hat, und die stark gefährdete Falsche Heckenrose und das Zierliche Schillergras sind nur einige Beispiele. Dennoch zeichnet sich bei den Arten der Roten Liste Berlin seit 2005 ein Rückgang ab. Unter anderem konnten seltene Pflanzen wie Acker-Filzkraut, Glanz Ehrenpreis oder Wiesen Knöterich nicht mehr nachgewiesen werden. Einige gefährdete Arten wie die Kriechende Hauhechel gehen stark zurück. Umso deutlicher wird, wie wichtig der Erhalt der wertvollen Biotope auf dem Tempelhofer Feld ist.
Neben diesen geschützten Lebensräumen und einer ganzen Palette unterschiedlicher Pflanzenarten wurde ein Viertel aller in Berlin bekannten Spinnen und Laufkäfer sowie ein Drittel aller Hautflügler festgestellt, insgesamt 236 Bienen, Wespen und Hummeln (2005).
Im Jahr 2010 sah es bei den Heuschrecken und Grillen ähnlich aus: 24 Arten wurden gezählt, was etwa der Hälfte der in Berlin vorkommenden Heuschrecken- und Grillenarten entspricht. Besondere Bedeutung erlangt dabei die Italienische Schönschrecke, die in Deutschland vom Aussterben bedroht und nach Bundes- artenschutzverordnung besonders geschützt ist. Außerdem leben auf dem Tempelhofer Feld das in Berlin vom Aussterben bedrohte Östliche Heupferd und der gefährdete Heidegrashüpfer, sechs weitere nachgewiesene Heuschrecken- und Grillenarten stehen auf der Berliner Vorwarnliste. Auch die 19 erfassten Tagfalterarten und eine Widderchenart unterstreichen die bemerkenswerte Vielfalt: Der Senfweißling gilt in Berlin als vom Aussterben bedroht, der Schwalbenschwanz und das Gemeine Blutströpfchen sind laut Roter Liste gefährdet und nach Bundesartenschutzverordnung, wie vier weitere vorkommende Arten, besonders geschützt.
Gefährdete Arten, wohin das Auge blickt
Besondere Beachtung sollten ebenso die 26 nachgewiesenen Brutvogelarten finden, die zudem nach Bundesartenschutzverordnung geschützt sind. Fast 50 Prozent der dort lebenden Vögel stehen auf der Roten Liste gefährdeter Arten Berlins bzw. auf der sogenannten Vorwarnliste (2010). Dazu zählen unter anderem das Braunkehlchen und der Steinschmätzer. Die Kontrolle durch das Monitoring ergab dann auch überraschenderweise keinen Rückgang bei den Feldlerchenrevieren. Im Gegenteil, die Population konnte sich sogar auf 163 Reviere steigern, das macht 40 Prozent des Berliner Bestands aus. Zugenommen hat auch die gefährdete Grauammer (von 2 auf 5-7 Reviere). Abgenommen haben jedoch andere Arten wie Neuntöter (von 12 auf 6 Reviere), der Steinschmätzer (von 6 auf 1 Revier) und die Schafstelze (von 6 auf 0 Reviere). Auch bei den geschützten Biotopen gab es Verluste. Fazit ist, dass die Fläche zwar an Naturschutzwert verloren hat, aber trotzdem noch genügend große zusammenhängende Bereiche für den Schutz von Flora und Fauna vorhanden sind.
Doch nicht nur den Pflanzen und Tieren bietet diese 300 Hektar große innerstädtische Freifläche eine Lebensgrundlage von unschätzbarem Wert. Auch die Berliner haben das Tempelhofer Feld als Erholungsgebiet längst schätzen und lieben gelernt. Besonders wichtig sind diese Flächen zudem für das Stadtklima, sozusagen ein Frischluftproduzent für die emmissionsbelastete Berliner Luft. So wirken innerstädtische Freiflächen als Kaltluftentstehungsgebiete und helfen somit vor allem an heißen Sommertagen die aufgeheizten, weil hoch versiegelten Wohngebiete in der Umgebung abzukühlen und somit das Stadtklima etwas erträglicher zu machen. Jede Bebauung, und sei es nur im Randbereich, würde diese Qualitäten schmälern.
Stetiger Planungszwang
Ginge es nach den Nutzern, den Pionieren und den Feldlerchen, könnte es jetzt eigentlich so weitergehen. Politik und Verwaltung können es jedoch nicht aushalten, einmal nicht zu planen und die Entwicklung des Areals als langsamen Prozess zuzulassen. Parallel zu der Eroberung der Tempelhofer Freiheit durch die Berliner hat die Senatsverwaltung daher unverdrossen weitergeplant und die lebendige Entwicklung ignoriert.
Schon 2009 wurde die Aktualisierung des Flächennutzungsplanes eingeleitet und die Verbände durften Stellungnahmen abgeben. Ob und wie die weitere Abwägung der Einwände erfolgte, ist nicht bekannt. Stattdessen wurde der Entwurf des Masterplanes präsentiert, der für die Bebauungspläne als gesetzt definiert und vom NABU Berlin abgelehnt wird. Demnach sollen nur rund 180 Hektar der zusammenhängenden inneren und frei nutzbaren Wiesenfläche erhalten bleiben – ob diese unbebaute Fläche auch in Zukunft erhalten bleibt, kann heute keiner sagen. Angesichts der stadtweiten Bedeutung und Größe des Tempelhofer Feldes wäre eine Diskussion über Lage, Größe und Zuschnitt der Baufelder nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig gewesen.
Für die Gestaltung der Parkfläche wurde 2011 ein Wettbewerb ausgelobt; den Zuschlag bekam der Entwurf des schottischen Büros GROSS.MAX. Wie oft bei Entwürfen aus Wettbewerben ist der Parkentwurf eigentlich für die Vogelperspektive gestaltet. Von oben betrachtet ergeben sich hübsche Symmetrien. Das geplante Wegesystem nimmt die Kreisform des Flughafengebäudes auf, auch die Wege zu den Parkrändern hin bilden verschieden große Kreise, egal ob sie als Verbindung nun Sinn ergeben oder nicht. In eine Kreisform fügen sich auch das 30.000 Quadratmeter große Beton-Wasserbecken und die so genannte „Landform“, eine drei Meter hohe und bis zu 72 Meter breite Aufschüttung ein. Des Weiteren sieht der Senat eine Randbebauung vor, die 4.700 Wohnungen, Gewerbe- und Freizeitflächen, Straßen, Parkplätze und den Bau der Zentral- und Landesbibliothek einschließt.
Durch die Errichtung des künstlichen Gewässers und des Hügels werden ein Drittel der Niststätten der Feldlerche vernichtet. Dies stellt einen erheblichen Eingriff in die dortige Population dar, der auf dem Feld nicht ohne weiteres ausgeglichen werden kann. Für die nach der europäischen Vogelschutzrichtlinie geschützte Art musste bei der Senatsverwaltung eine Ausnahmegenehmigung von den Verboten des § 44 BNatSchG beantragt werden. Nach Auffassung des NABU Berlin liegt die Voraussetzung hierfür nicht vor, denn die für eine Ausnahme notwendigen „zwingenden Gründe des überwiegend öffentlichen Interesses“ für die Anlage eines Gewässers und des Hügels können hier nicht nachgewiesen werden. Für die an sich begrüßenswerte Versickerung von Regenwasser wird ein Wasserbecken dieser Größe nicht benötigt und die Erholungssuchenden kommen auch ohne Hügel aus. „Zumutbare Alternativen“ sind erst gar in Betracht gezogen worden. Es hätte unbedingt geprüft werden müssen, ob nicht eine andere Variante der Parkplanung möglich ist, die die Feldlerchenpopulation schont. Gegen den Bau des Wasserbeckens und der Landform hat der BUND Berlin folgerichtig eine Klage eingereicht und Recht bekommen.
Schöngerechnet - Naturschutz in Punkten
Die massiven Eingriffe in Natur und Landschaft sehen die GrünBerlin GmbH und die Senatsverwaltung auch und liefern den Ausgleich dafür gleich mit. Denn der neu gebaute Park soll gleichzeitig auch der Ausgleich für alle Eingriffe durch seine Anlage und die späteren Baufelder sein. Da reibt man sich doch verwundert die Augen.
Ein Blick in die Unterlagen der im November 2013 durchgeführten frühzeitigen Beteiligung der Öffentlichkeit zu den ersten beiden Bebauungsplänen, dem B-Plan 7-70 (28 Hektar) „am Tempelhofer Damm“ und dem B-Plan7-71 „am Südring“ (31 Hektar) zeigt, dass hier wahre Rechenkünstler am Werk waren. Zur Berechnung und Bilanzierung von Ausgleich und Ersatz von Eingriffen in Natur und Landschaft verwendet das Land Berlin ein kompliziertes Punkteverfahren, welches im Mai 2013 von der TU überarbeitet wurde. Der Ausgleich durch die Gestaltung des Landschaftsbildes spielt hier eine herausragende Rolle, wird es doch gleich mit sechs verschiedenen sogenannten „Wertträgern“ in Ansatz gebracht, so dass beispielsweise auch Wegebau als Ausgleich für die Vernichtung von Flora und Fauna angerechnet werden kann. Im Fall der Eingriffe in das Tempelhofer Feld wurde mit dieser Methode berechnet, dass das Minus von 17.350 Wertpunkten bei den Biotopen und dem Biotopverbund allein durch Pluspunkte im verbesserten Landschaftsbild mehr als ausgeglichen werden kann. Mit der Erschließung durch neue Wege werden + 9.035 Wertpunkte gegengerechnet, die angeblich verbesserte Freiflächenversorgung sorgt für + 5.552 Wertpunkte – obwohl ja die zur Verfügung stehende Freifläche verkleinert wird – und der höheren Anteil gestalterisch wertvoller Elemente bewirkt dann noch mal +4.523 Wertpunkte. Bilanziert ergibt das ein Naturschutzplus von 1.760 Punkten. In ähnlicher Weise wird der negative Einfluss auf das Stadtklima mit dem Bau des Wasserbeckens für das Schutzgut Wasser verrechnet.
Der NABU Berlin ist über diese Vorgehensweise empört. Nicht genug, dass das Tempelhofer Feld mit einer Parkanlage überplant und an den Rändern zugebaut wird, es gibt noch nicht einmal adäquaten Ersatz für die Eingriffe in Natur und Landschaft. Ein Zitat des Ex-Umweltsenators Volker Hassemer beschreibt den aus unserer Sicht angemessenen Umgang mit der Tempelhofer Freiheit perfekt: „Auf solch einer Fläche, die es weit und breit nicht noch mal gibt, darf man nicht mit Gestaltungen kommen, wie sie überall – und sehr hübsch – sein können. (…) Das Tempelhofer Feld hat seinen, hat seinen einzig möglichen Platz dort, wo es liegt. Und muss auch so bleiben dürfen, wie es ist. Es hat sogar die Pflicht, sich seine Besonderheit nicht begradigen zu lassen. In seiner Einmaligkeit gehört es zu den seltensten Lebewesen weltweit und hat einen dementsprechenden Schutz verdient.“ (Tagesspiegel vom 10.8.2012)
Jede Stimme zählt!
Der NABU Berlin positioniert sich klar gegen den Masterplan der Senatsverwaltung und unterstützt das Vorhaben der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“. Demnach sollen das ehemalige Flughafengelände in seiner Gesamtheit und die wertvollen Flächen für den Biotop- und Artenschutz erhalten bleiben. Darum hofft der NABU Berlin, dass der Volksentscheid am 25. Mai 2014 positiv ausgeht und mindestens 630.000 gültige Stimmen zusammenkommen. Stimmen Sie also ab für 100% Tempelhofer Feld – für die Nutzer, Pioniere und Feldlerchen!
Quelle: TU Berlin et al. (2013): Verfahren zur Bewertung und Bilanzierung im Land Berlin
8. Mai 2014
Nachtrag vom 26. Mai 2014:
Es gibt gute Nachrichten! Der Volksentscheid ging zugunsten der Initiative "100% Tempelhofer Feld" aus.